Page 35 - LiMa 51
P. 35

Von ihrem Hof blicken
           sie auf die letzten
           Häuser Hölsteins:
             Ladina, Flavia,
         Alicia, Andreas und
             Claudia Haas.

























       Leben am Dorfrand




       Leben am Rand, geographisch gesehen, ist auch für Andreas und                 werden, allein schon wegen der Einkäufe
       Claudia Haas nichts Neues. Der Landwirt wuchs auf dem Hof Obere               und des Arbeitswegs – Claudia Haas
       Bireten ausserhalb von Hölstein auf. Heute leitet er mit Claudia den          arbeitet mit einem 40-Prozent-Pensum
                                                                                     als Buchhalterin.
       elterlichen Betrieb, hält 30 Milchkühe, betreibt Obst- und Spargel-
                                                                                        Flavia, Ladina und Alicia geniessen
       bau, 19 Hektaren gesamt – und seine Kinder haben einen Schulweg
                                                                                     das Leben auf dem Bauernhof. Die
       von 40 Minuten. Ausser sie werden von der Mutter gefahren.                    Frage, ob die Distanz zum Dorf kein
                                                                                     Problem sei, beantworten sie mit Nein,
       Das sei früher noch anders gewesen,    che Distanz. Hingegen der Vorteil: «Man   und zwar wie aus der Pistole geschossen.
       erinnert sich Andreas Haas, 48, der den   hat seine Ruhe, kann lärmen, wie man   Ihre Mutter, die in Häfelfingen auf-
       Schulweg zu Fuss ging, ganz egal, ob die   will.»                             wuchs, wo das spontane Treffen mit den
       Sonne brannte oder Regen fiel. Zwei        «Und man hat länger Sonne als im   Freundinnen immer nur einen Steinwurf
       Kilometer misst der Weg bis zur Schule   Dorf», sagt Claudia Haas, 44, und    entfernt war, brauchte Angewöhnungs-
       – und 60 Höhenmeter. Bei ihm früher,   schwärmt von lauen Sommerabenden,      zeit in Hölstein. Wenn sie etwa spazieren
       wie auch bei seinen Kindern heute sei   an denen um 22 Uhr noch die Sonne     gehe, dann den Hügel hoch und nicht
       eine Hemmschwelle da, sich mit Freun-  scheint. Sie ist sich bewusst: Ohne Auto   hinab – «und da läuft man dann noch
       den zu verabreden, durch diese räumli-  könnte es hier oben schnell einsam    weniger Menschen über den Weg.»
                                                                                        Blickt die Familie Haas aus ihrem
                                                                                     Stubenfenster, sehen sie die letzten
                                                                                     Ausläufer Hölsteins am Horizont; das
                                                                                     Dorf hat sich in den vergangenen
                                                                                     Jahrzehnten unaufhaltsam die Hänge
                                                                                     hochgefressen. Und sie sehen andere
                                                                                     Höfe, teilweise bewohnt von betagten
                                                                                     Bauersfrauen, die das  Autofahren nie
                                                                Ladina, Flavia und   gelernt haben und nun auf ihre Kinder
                                                                Alicia geniessen das
                                                                Hofleben. Die Distanz   angewiesen sind, um ins Dorf zu kom-
                                                                macht ihnen nichts   men. Das passiert den Haas’ nicht.
                                                                aus.                 Nicht, solange sie mobil sind. lh


                                                                                                     LiMa Mai – Juni 2016  – 35 –
   30   31   32   33   34   35   36   37   38   39   40