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KINDER








       «Rummaulen gab’s


       nicht»





       50 und mehr Jahre ist es her, dass Monika Straumann                           Tablet. Wir spielten draussen. Bei uns
       und Ruedi Lüdi Kinder waren. Gemeinsam besuchten sie die                      gab es auch noch keine Jugendtreffs;
       Primarschule Rotacker – und gemeinsam blicken sie zurück.                     stattdessen spielten wir auf der Strasse,
       Ein Sprung in die Vergangenheit.                                              das ganze Quartier kam zusammen. Und
                                                                                     beim Burg-Reservoir «schutteten» wir,
                                                                                     das war unser liebstes Hobby.
       Es ist ein sonniger Tag in Liestal.    Leistungsdruck, der heute auf den
       Monika Straumann, die für das Ge-      Kindern lastet – Druck etwa, Marken-   Wer heute Kind ist, kommt nicht
       spräch eigens aus Zürich angereist ist,   klamotten zu tragen. Das gab’s bei uns   um Trump, IS und den Brexit herum.
       wo sie seit 1981 lebt, 60-jährig, arbeitet   nicht.                           Gab es auch in Ihrer Kindheit prä­
       als Direktionsassistentin in einem der     Lüdi: Damals waren Manchester-     gende Ereignisse?
       grössten Schweizer Unternehmen. Ruedi   Hosen gerade sehr modern. Und Sanda-     Lüdi: Ganz klar der Kennedymord.
       Lüdi, verheiratet seit 1980, ebenfalls 60   len, jedenfalls im Sommer.        Ich erinnere mich, wie ich ihn als
       und Vater dreier Kinder, ist Anfang Jahr   Straumann: Wir Mädchen trugen      charismatische Persönlichkeit schätzte.
       in Rente gegangen. Er arbeitete als Polier   Jupe und darüber eine Schürze, um    Straumann: Es war ein totaler
       im Tiefbau, baute in den vergangenen 20   den Jupe zu schützen. Sonst Unisex-  Schock, selbst für uns Kinder. Wir
       Jahren an halb Liestal mit.            Kleidung. Sie kauften meine Eltern so,   konnten uns nicht vorstellen, dass er
                                              damit meine beiden jüngeren Brüder     wirklich tot sein sollte.
       Frau Straumann, Herr Lüdi: Wie         sie austragen konnten.                    Lüdi: Das zweite grosse Ereignis war
       war Ihre Kindheit?                         Lüdi: Und im Winter gab’s noch     der Prager Frühling, ‹68 war das, oder?
           Monika Straumann: Wir hatten eine   richtig Schnee. Monika, erinnerst du   Straumann: Genau, 1968. Der Ein-
       schöne Kindheit – oder, Ruedi?         dich? Richtig guten Schnee. Mit unsere   marsch der Sowjetunion hat auch bei uns
           Ruedi Lüdi: Ja, eine sehr schöne   Skiern machten wir Pisten, und wir     grosse Wellen geschlagen.
       Kindheit, ich erinnere mich gern daran   schlittelten. Bäuchlings legten wir uns   Lüdi: Dub˘cek und Svoboda waren
       zurück.                                auf unsere Davoser, der Vordermann     damals in aller Munde. Mir kommt noch
           Straumann: Alles war so unbe-      hakte seine Füsse in den Schlitten hinter   etwas in den Sinn: Die Ablehnung der
       schwert. Ja: Wir hatten ein unbeschwer-  ihm, und so weiter, gefährlich war das,   Schwarzenbach-Abstimmung (die
       tes Leben als Kinder, eine heile Welt   aber ein Riesenspass. Das liesse heute   sogenannte Überfremdungs-Initiative
       ohne Gratiszeitungen und Mobiltelefone.  niemand mehr zu – und der Hinterste   von James Schwarzenbach, die das Volk
           Lüdi: Wir waren acht Geschwister,   kam auch selten heil unten an.        am 7. Juni 1970 ablehnte, d. Red.).
       alles Buben, und ich war der jüngste.      Straumann: Erinnerst du dich an
       Klar rauften wir uns, und manch ein Mal   die Lichtstrassenlampen?            Sie erwähnten vorhin, damals keinen
       gab es «Lämpe», aber ich möchte diese      Lüdi: Aber sicher – und zum Auto-  Fernseher gehabt zu haben, das
       Zeiten nicht missen. Wir lebten nicht im   ren: Eine Klassenkameradin hatte die   Internet war noch nicht mal eine
       Überfluss, aber hatten alles.          Strassenbeleuchtung immer so genannt.   Zukunftsvision. Wie heilt man sich
                                              Wenn sie im Winter angingen, wussten   auf dem Laufenden?
       Denken Sie, Kindheiten sind heute      wir: Jetzt müssen wir nachhause, das      Straumann: Mit dem Radio natür-
       anders?                                war das Zeichen.                       lich, praktisch niemand hatte damals
           Straumann: Ich glaube, die Unter-      Lüdi: Man konnte noch wirklich     einen Fernseher. Immer punkt 12.30 Uhr
       schiede sind riesig. Allein der enorme   Kind sein – ohne Smartphone und      liefen die Nachrichten im Radio. Damals

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