Page 39 - LiMa September/Oktober 2016
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Ist das nicht ein gar extremes         sexuell misshandelt wurde. Als seine   leuchten, Situationen zu verbessern.
       Beispiel?                              Tochter zur Frau wurde, zu einem attrak-   Aber es gibt Dinge, die kann man schwer
           Das finde ich nicht. Feuerwehr-    tiven, sexuellen Wesen, nistete sich in   nachvollziehen, z.B.  Kannibalismus als
       männer riskieren tagtäglich ihr Leben   ihm die Angst ein, dass er sich seiner   extremes Tabu etwa, Formen der Schizo-
       für andere. Sie treffen diese Entschei-   Tochter unsittlich nähern könnte, die   phrenie. Solange die innere Bühne stabil
       dung aus freien Stücken. Als soziale   Angst, zu zärtlich zu sein, ihr zu nahe zu   ist, können wir gut helfen. Wenn die
       Wesen sind wir mit einem gesunden      kommen. Darum ging er auf Distanz –    ganze Bühne aber zusammenbricht, weil
       Egoismus, aber auch mit einem altruis-  und seine Tochter fühlte sich zurückge-  die Protagonisten nicht nach Drehbuch
       tischen System ausgestattet. Es ist kein   wiesen, ungeliebt. Ein Kind muss von   agieren, plötzlich der Vorhang fällt und
       Extrembeispiel: Es ist Alltag.         seinen Eltern als ganzer Mensch wahrge-  die Putzfrau ohnehin immer zu spät
                                              nommen werden – auch mit seinen        kommt, blicken wir in den Abgrund.
       Sie sind mir noch eine Antwort zu      Bedürfnissen nach Nähe, Zärtlichkeit.   Dann beginnt die Fragmentierung, das
       den erotisch motivierten Abgründen     Und als erotisches Wesen. Freude an der   Ich zerfällt zu einem Puzzle. Das ist für
       schuldig.                              Schönheit des Kindes natürlich ohne    uns die grösste therapeutische Heraus-
           Richtig. Ich gebe Ihnen ein Beispiel.   Anzüglichkeiten.                  forderung, die viel Engagement, Empa-
       Eine Patientin ist hübsch, charmant,                                          thie und Respekt erfordert.
       beliebt, künstlerisch begabt. Trotzdem   In diesem Fall konnten Sie helfen.
       wird sie depressiv und entwickelt          Es war der Idealfall. Leider ist das   Abschliessend: Schlummert in uns
       sogar suizidale Gedanken. Es gab keine   nicht immer so, die Eltern schweigen    allen ein Abgrund?
       Gewalt im Elternhaus, auch kein        oft oder sind bereits verstorben. Wenn es      Abgründe sind in jedem von uns.
       Schlüsselerlebnis. Im Gespräch eröffnete   gelingt, bekommt die Beziehung, in   Fragen Sie sich, was in Ihnen ist, von
       sie mir, das Gefühl zu haben, nichts    diesem Fall zwischen Vater und Tochter,   welchen Mustern Sie geleitet werden, die
       wert zu sein, nicht wahrgenommen zu    eine neue Qualität, und die Patientin   Sie nicht durchbrechen können. Es ist
       werden, keinen Grund zu finden,        merkt, dass mit ihr alles in Ordnung ist,   nicht alles so klar, wie es scheint, und es
       weshalb sie auf der Welt sei.          es gibt ihr einen Schub.               lohnt sich, das Unklare zu erforschen.
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       Warum will sie sich umbringen?         Wie gestalten sich Fälle, in denen     digkeit – und Spontaneität. Die Fantasie
           Der Abgrund. Ein überkompensiertes   Ihnen das nicht gelingt?             wird grösser, der Innenraum wächst, und
       Familientabu. Im Gespräch mit ihrem        Meine Aufgabe ist es, Abgründe mit   vieles kann geschehen – um den Preis,
       Vater kam aus, dass er von seinem Vater   den Patienten aufzuspüren und auszu-  dass wir alles verantworten müssen. lh


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