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DER LETZTE GANG









       Krisenstabs. Hier stehen wir Ange-     stattfinden. Man nimmt im engsten      sind, danach sehnen sich die Menschen.
       hörigen in deren schlimmsten Stunden   Familienkreis in einer ausgedehnteren   Friedhöfe, davon bin ich überzeugt,
       bei. Plötzlich wird jemand aus dem     Form am Grab Abschied. Früher          werden nicht überflüssig.
       Leben gerissen, etwa durch einen Suizid.   gab es das weniger.
       Darauf gibt es keine normale Reaktion,                                        Warum wird das Leben und der Tod
       man fällt ins Bodenlose. Wir erleben   Ist das ein Verlust?                   in unserer Kultur strikt getrennt?
       alles, vom Schreien bis zum Erstarren      Es ist eine Veränderung. Eine         Das war nicht immer so. Aber heute
       und sogar Lachen. Auch lachen kann     Beerdigung im Kleinen ist für jene     ist das Sterben weniger sichtbar. Das
       Trauer ausdrücken und eine Form der    problematisch, die nicht zum engsten   hat auch damit zu tun, dass gerade
       Verarbeitung sein. Dann werde ich      Kreis gehören, aber auch gerne Abschied   medizinisch so vieles möglich geworden
       gefragt: «Bin ich abnormal?» Meine     nehmen würden. Doch heute stellt sich   ist. Das Schicksalhafte hat früher eine
       Antwort ist dann: «Nein, Sie sind absolut   die Frage, ob es überhaupt eine Beiset-  grössere Rolle gespielt. Die Menschen
       normal, die Situation jedoch ist nicht   zung gibt. Manche nehmen die Urne    sprechen nicht gern über den Tod, sie
       normal.» Es ist einfach eine Überforde-  nach Hause, andere halten den Friedhof   schieben das Thema vor sich her.
       rung, und jeder geht anders damit um.  nicht für den richtigen Ort. Die Vielfalt   Gleichzeitig kann man sich auch nicht
                                              ist grösser geworden.                  Tag und Nacht mit dem Sterben beschäf-
       Hat sich die Auseinandersetzung                                               tigen, wie sollte man da noch das Leben
       mit dem Tod in unserer Kultur          Ist das Konzept des Friedhofs denn     gestalten können?
         verändert?                           noch aktuell?
           Früher ging man natürlicher mit        Friedhöfe werden gut besucht, für   Zu Ihrer Arbeit gehören nicht
       dem Sterben um, es war Teil der Gesell-  viele sind sie ein wichtiger Ort der   nur die Seelsorge, sondern auch
       schaft. Es gab Leichenzüge durchs Dorf,   Einkehr und des Abschiednehmens.    Beer digungen. Ganz pragmatisch
       jeder konnte Abschied nehmen. Heute    Viele brauchen diesen Ort, wo sie        betrachtet: Wie bereiten Sie eine
       finden Beerdigungen zunehmend im       hingehen können, um sich zu besinnen   Beisetzung vor?
       kleineren Rahmen statt. Ich beobachte   oder zu trauern. Ein Friedhof ist eine       Am Anfang steht das Gespräch
       eine Tendenz, dass immer mehr Beer-    der wenigen Konstanten in Zeiten, die   mit den Angehörigen. Ich besuche die
       digungen ohne Kirchenbenützung         einem so starken Wandel unterworfen    Familie, nehme mir Zeit, das ist enorm
                                                                                     wichtig. Dann sitzen wir am Tisch, quasi
                                                                                     der Familienrat und ich. Gemeinsam
                                                                                     spriessen so die Ideen. Diese Gespräche
                                                                                     sind unersetzlich. Besonders, wenn ich
                                                                                 Florian Moritz  jemanden nicht oder nicht sehr gut
                                                                                     gekannt habe. Hier besprechen wir den
                                                                                     Ablauf der Beisetzung und das Admini-
                                                                                     strative. Und hier erfahre ich, was für ein
                                                                                     Mensch es war, durch Erzählungen der
                                                                                     Familie lerne ich ihn kennen.

                                                                                     Ist das bereits ein Teil der
                                                                                     Verarbeitung für die Angehörigen?
                                                                                        So ist es. Die Angehörigen kommen
                                                                                     miteinander ins Gespräch, da passiert
                                                                                     viel. Oft wird geweint, aber auch ge-
                                                                                     schmunzelt und manchmal sogar gelacht.
                                                                                     Die Leute erzählen, und ich mache
                                                                                     Notizen, schreibe alles mit. Diese

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