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Seerosen, Schönheit, Frieden und Wärme
       Auf dem letzten Tropfen                                                       umgaben Jürg Kaufmann. «Hier will ich
                                                                                     bleiben.» Von ganz fern erreichten ihn die
                                                                                     Stimmen seiner Retter.
       Jürg Kaufmann blickte dem Tod ins Auge. Die Rekonstruktion
       seiner beinah letzten Minuten … und der Rettung.



       16. August 2013, kurz nach acht Uhr    Erst Wochen später sollte Jürg erfahren,   Ärztin: «Wir versuchen alles … können
       morgens. Jürg Kaufmann, 57, ist bei der   dass sein Chauffeur auf dem letzten   nichts garantieren … eventuell auch der
       Arbeit. Es ist ein warmer, sonniger Tag,   Tropfen Benzin unterwegs war, die   Tod.»
       nur Jürgs Gemüt ist gewöhnlich noch    Anzeige leuchtete seit zwei Tagen. Max      Dann steht sein Herz still. Jürg sieht
       sonniger. Doch nicht an diesem Tag.    schwitzte Blut und Wasser.             Farben. Wie ein Gemälde von Monet,
       Etwas ist anders. Weder Schmerz zwar       Jürg ging es von Kilometer zu      Blumen, Seerosen genau, überall See-
       noch Übelkeit, ein Unwohlsein vielmehr,   Kilometer mieser, kalter Schweiss schoss   rosen, satte Farben und: Wärme, allum-
       etwas, das er nicht kennt; etwas Unbe-  aus seinen Poren, Übelkeit übermannte   fassende Wärme. Die Seerosen kommen
       kanntes. Und das wird stärker.         ihn, er sagte zu Max: «Du, mir ist,    näher, die Farben überwältigten Jürg,
           Dann sagt Jürg seinem Kollegen,    als wär ich ein Computer, der gerade   die totale Schönheit, Frieden, pure
       es ginge ihm schlecht, «Max», sagt er,   runterfährt. Ich glaube, ich schaffe    Behaglichkeit und: nicht eine Ahnung
       «mir ist gar nicht gut.» Minuten später   es nicht mehr ins Spital.» Um sich aber   von Angst.
       sitzen sie im Auto, und Max fragt die   zu fürchten oder Max zur Eile anzuhal-     «Hier gefällt es mir», denkt er,
       entscheidende Frage: nach Hause oder   ten, fehlte ihm die Kraft.             «hier will ich bleiben.» Doch in der
       zum Arzt? Und Jürg gibt die noch                                              Ferne hört er Stimmen, sie überschlagen
       entscheidendere Antwort: «Ich war noch   Eventuell auch der Tod               sich, Geschrei und Gezeter. Jürg Kauf-
       nie auf dem Notfall. Doch, bring mich   Sie kamen an, Kantonsspital Liestal,   mann stört sich an diesem Lärm, aus
       bitte ins Spital.»                     Notfallaufnahme. Noch im Auto schaffte   dem er Wortfetzen versteht, «er driftet
           Jürg sinkt immer tiefer in seinen   es Jürg, seine Krankenkassenkarte aus   uns ab», hört er, immer wieder: «Er
       Sitz, während die beiden Richtung      dem Portemonnaie zu fischen. Dann der   driftet uns ab», und: «Wir bekommen
       Liestal fahren. Nicht nur die rote Welle   Kollaps, alles dreht sich, Eile um Jürg   ihn nicht mehr zurück.»
       an den Ampeln hält sie auf; Max        herum, Hektik, Schritte, wirre Worte.      Dann ist alles weg, Wärme, Monet,
       schleicht, als hätte er alle Zeit der Welt.   Bruchstückhaft hört er die Stimme der   Frieden, was bleibt ist ein Nichts. Es ist


                                                                                             LiMa November–Dezember 2015  – 43 –
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